Die dunkle Nacht der Seele
Stirb einmal und genieße fortan den Rest deines Lebens
März 2015
Die größte Krise, die einem intelligenten, heroischen und potenten Mann widerfahren kann, ist das stille Leiden in der dunklen Nacht der Seele. Der Mann hat den Gipfel des modernen Bewusstseins erlangt und fühlt sich wie der König der Welt. Er steht auf der obersten Sprosse seiner Leiter, ist oben angekommen und muss unerwartet feststellen, dass er die Leiter gegen eine Wand gelehnt hat, die ihm nicht mehr weiterhilft. Plötzlich wird ihm bewusst, dass ihm all seine Anstrengungen keinen Frieden gebracht haben. Er muss den Schlüssel woanders suchen, außerhalb von dem, wessen er bisher gewahr wurde.
Irgendwann ist diese Erkenntnis unvermeidlich. Wie aber mit ihr umgehen?
Er kann sie nicht mehr ignorieren, sich nicht mehr wie Don Quijote in seine zweidimensionale innere Wunschwelt zurückziehen, zufrieden sein mit seinem Auto, seinem Fußballverein, den lustigen Musikanten. Wird er, weil er seine Erkenntnis nicht mehr verdrängen kann, sich in Schuldzuweisungen nach innen oder außen verzehren, dem Groll anheim fallen und resignieren? Wird er wie der äußerst integre und klar denkende Hamlet die Situation komplett sachlich analysieren können und trotzdem keinen Ausweg und keine Befreiung finden? Hamlet möchte am liebsten sterben, ach - wüsste er doch nur, dass danach eine bessere Welt auf ihn wartete.
Dies ist die dunkle Nacht der Seele, Dantes Reise durch die Hölle und das reinigende Fegefeuer. Was man für die Auflösung dieser Krise eigentlich braucht, ist die Wahrnehmung einer neuen Dimension. Daran scheitern viele.
Die Rede ist vom eigenen Schatten, von der immensen Kraft, die in der ewig verdrängten dunklen Seite des Selbst steckt. Sie ist unkontrollierbar. Sie leuchtet dahin, wo andere lieber wegschauen. Sie lässt unsere Konzepte zusammenbrechen. Sie ist so gewaltig, dass sie das Unlösbare auflösen kann. Sie macht uns komplett, wenn wir uns mit ihr verbünden. Sie hat die Kraft des Paradoxons. Sie kommt mit unerwarteten Sichtweisen und überraschenden Lösungen, dir wir uns gar nicht hätten bewusst sein können, weil uns eben dieses Bewusstsein noch fehlt.
Die Anleitung für die dunkle Nacht der Seele ist einfach und schwer zugleich.
Nimm den Schatten deines ungelebten Lebens auf.
Finde einen neuen Schwerpunkt der größer ist als du selbst.
Verschiebe das Zentrum deiner Persönlichkeit weg von deinem Ego und hin zu diesem Ort.
Dem dunklen Schatten kann ich in einer Vision Quest bereits begegnet sein. In der dunklen Nacht der Seele geht es jedoch weiter, denn im Prozess stirbt mein Ego. Das Bewusstseinszentrum ist nicht mehr persönlich. Ich bin nicht mehr mein Körper. Ich bin nicht mehr mein Geist und nicht mehr meine Gedanken.
In gewisser Weise ist es ein Selbstmord, allerdings ist es kein physischer. Es wäre vollkommen unsinnig, seinem Körper zu schaden, wenn man sich mit einer Bewusstseinsfrage auseinandersetzt. Es soll ja nur das Ego freiwillig sterben.
Je nach eigener Integrität und vielleicht noch ein bisschen Wissen kann die dunkle Zeit Wochen oder Jahre dauern. Jesus soll dazu 40 Tage und 40 Nächte in der Wüste verbracht haben.
Wir können von spannenden Einsichten lesen, die die inspirierenden und großen Führer mitbrachten, als sie das Unbekannte außerhalb ihrer realen Welt wahrnahmen. Siddhartha Gautama Buddha sprach von der alten Welt fortan als Maya (Illusion), Mikao Usui begann nach seinem Satori, eine immer währende Seelenkraft im Universum zu erforschen, die sich ihm offenbarte und die einen jeden Menschen mit Lebensenergie versorgen würde.
Ein Bewusstseinszentrum außerhalb vom eigenen Körper könnte dabei durchaus Sinn machen. Bruce Lipton erklärt anschaulich, wie ein Mensch seine Identität sowieso nur durch chemisch und elektrisch getriggerte Signale aus der Umgebung aufnimmt. Lipton vergleicht den einzelnen Menschen gar mit einem Radio, das nur empfängt, was eine Sendestation irgendwo da draußen abspielt. Warum also nicht? Zumindest scheint dieses Konzept einem Menschen dienlich zu sein, der sein Ego aufgegeben hat. Er kann sich an einer anderen Art von Bewusstsein aufhängen und festhalten.
Irgendwann gehen vielleicht du, lieber Leser, oder ich durch dieses Erlebnis. Möglicherweise sehen wir dann, irgendwann, einen Lichtschein in der dunklen Nacht der Seele auftauchen. Wir spüren eine unvorstellbare Freude und entdecken eine ungewohnte pulsierende Lebenskraft. Vielleicht offenbart sich uns dann die vierte Dimension, und die Zeit ist gekommen, den Rest unseres Lebens zu genießen!
Vision Quest - Die Visionssuche
Die dunkle Nach der Seele am Beispiel von Faust
Goethe demonstriert die Facetten der dunklen Nacht der Seele und ihrer Überwindung auf hervorragende Weise am Beispiel von Faust. Die Krise beginnt damit, dass im Anfang nicht das Wort sondern die Tat steht. Faust wird seines Schattens gewahr, eines Schattens, der seinen Platz und seinen Wert hat, denn des Pudels Kern verwandelt sich zu Mephistopheles (Mephisto), und dieser erklärt, Teil dessen zu sein, was einmal Eins war.
Die beiden schließen eine Wette ab statt eines Vertrages, und Faust bekommt für 24 Jahre seine Jugend und Vitalität zurück, Mephisto verspricht dabei allerdings kein Glück, und Faust darf das ganze ungelebte Leben seiner Jugend nacherleben.
Mephisto hält gar den Schlüssel für Faust bereit, wie dieser zu endgültiger Freiheit kommen kann. Er dürfe bei all seinem Erleben einfach nur an keinem Teil davon festhalten wollen.
Anfangs sind Faust und Mephisto die kompletten Gegensätze. Über die Zeit verschmelzen sie immer mehr zu einer Persönlichkeit. Das ist wegweisend, denn es kann keinen Triumph des einen über den anderen sondern nur die Vereinigung geben.
Faust lernt mit Gretchen die reinste Frau kennen. Er kann sie verführen, er tötet ihren Bruder und treibt sie und ihr beider ungeborenes Kind in den Selbstmord. Faust geht durch bewusstes Leiden und Depression. Alles ist verbunden mir der eigenen Jugend, die er verpasst hat.
Mephisto ist immer wieder ein unschätzbarer Verbündeter. Er hilft Faust, die archetypische weibliche Energie der spartanischen Helena von Troja aufzunehmen. Mephisto und Faust nähern sich immer weiter an und heilen sich gegenseitig.
Faust macht sich daran, Land aus dem Meer zu gewinnen, welches symbolisch für das Unbewusste steht. Der Schlüssel zur Erlösung bleibt jedoch das Unkontrollierbare. Gretchen, die von Faust so schlecht behandelt wurde, kommt vom Himmel und wird zu seiner Retterin, indem sie dessen verfängliche Worte als göttliche Vision uminterpretiert. Mephisto wiederum lässt sich darauf ein und wird wiederum völlig unerwartet und prompt belohnt, denn das Spiel der archetypischen Kräfte geht weiter. Über die Zeit bekam Faust schon Hilfe von 3 archetypischen »Puer Aeternis«, göttlichen Jünglingen, die wie aus dem Nichts auftauchten. Jetzt nun kommt der 4. Jüngling, und mit ihm findet sogar Mephisto zu seiner eigenen Erlösung, weil er plötzlich die Kraft der Liebe spürt und sich vollends und unsterblich in diesen Engel verliebt, während Faust sich mit Gretchen vereinen kann.